Hanno Kesting: Herrschaft und Knechtschaft Die »soziale Frage« und ihre Lösungen Rombach Hochschul Paperback, Band 57.

Rombach, Freiburg, 1973, 104 Seiten. Taschenbuch, Paperback.

Wenn wir uns die Geschichte der sozialen Frage vor Augen halten, so ergibt sich eine bittere Wahrheit. Der Mythos von Herr und Knecht hat in Europa zwei säkulare Phasen durchlaufen — die liberale Phase, die mit der bürgerlichen Revolution von 1789 bis 1830 endete und die zur Durchsetzung des industriellen Kapitalismus führte, und eine zweite, eine radikal-demokratische und schließlich sozialistische Phase, die 1848 in ganz Europa revolutionär in Erscheinung trat, aber gestoppt werden konnte durch das Bündnis des Bürgertums mit den konservativen Kräften der Gesellschaft und vor allen Dingen mit dem Staat. Im 20. Jahrhundert wiederholt sich dieser Vorgang in einem weltpolitischen Maßstab. Dem angloamerikanischen Liberalismus tritt der radikale Bolschewismus entgegen. Die gegenwärtige Weltlage gleicht in mancher Beziehung der europäischen Lage von 1848. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die konservativen Kräfte sind nahezu vollständig zerstört. Denn die Lösung der sozialen Frage war nicht ein Ausgleich zwischen Herr und Knecht, wie er Hegel vorgeschwebt und wie er, ein halbes Jahrhundert später, das Denken von Lorenz Stein bestimmt hatte, sie brachte vielmehr — wenn nicht den vollständigen Sieg der Knechte, so doch den seiner Mythologie. Die Fragen des 18. und 19. Jahrhunderts sind längst zergangen. Die Antworten aber, die diese Jahrhunderte gegeben haben, terrorisieren eine Menschheit, deren »Befreiung« und »Beglückung« von verschiedenen Zentren, mit verschiedenen Methoden, aber im Zeichen einer im Grunde gleichartigen Mythologie betrieben wird. Gerade darin besteht der Weltbürgerkrieg der Gegenwart — der Kampf zweier Ausgestaltungen des Mythos von Herr und Knecht. Solange auf allen Seiten in den Kategorien dieses Mythos gedacht, geplant und gehandelt wird, scheint kein Ausweg aus der wahrhaft eschatologische Situation möglich.