Koetzle S. 153. Vgl. Heidtmann 9530
(erste deutsche Ausgabe, München 1968). – Sehr seltene erste Ausgabe der
bahnbrechenden Dissertation der berühmten deutsch-französischen
Fotografin. – Mit eigenhändiger Widmung von G. Freund für J(oseph) van
Melle (1884-1970). – „Vor acht bis zehn Jahren hat man begonnen, die
Geschichte der Photographie zu erforschen. Man kennt eine Anzahl, meist
illustrierter Arbeiten über ihre Anfänge und ihre frühen Meister. Es
ist dieser jüngsten Publikation vorbehalten geblieben, den Gegenstand im
Zusammenhang mit der Geschichte der Malerei zu behandeln. Gisèle
Freunds Studie stellt den Aufstieg der Photographie als durch den
Aufstieg des Bürgertums bedingt dar und macht diese Bedingtheit in
glücklicher Weise an der Geschichte des Porträts einsichtig. Von der
unter dem ancien regime am meisten verbreiteten Porträttechnik, der
kostspieligen Elfenbeinminiatur ausgehend, zeigt die Verfasserin die
verschiedenen Verfahren auf, die um 1780, das heißt sechzig Jahre vor
Erfindung der Photographie, auf eine Beschleunigung und Verbilligung,
damit auf eine weitere Verbreitung der Nachfrage nach Porträts
hinzielten. … Die Frage, ob die Photographie eine Kunst sei, wurde
damals mit dem leidenschaftlichen Anteil eines Lamartine, Delacroix,
Baudelaire verhandelt, die Vorfrage wurde nicht erhoben: ob nicht durch
die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich
verändert habe. Die Verfasserin hat das Entscheidende gut gesehen. Sie
stellt fest, wie hoch dem künstlerischen Niveau nach eine Anzahl der
frühen Photographen gestanden haben, die ohne künstlerische Prätentionen
zu Werke gingen und mit ihren Arbeiten nur einem engen Freundeskreise
vor Augen kamen. „Der Anspruch der Photographie, eine Kunst zu sein,
wurde gerade von denen erhoben, die aus der Photographie ein Geschäft
machten.“ (S. 49) Mit andern Worten: der Anspruch der Photographie eine
Kunst zu sein, ist gleichzeitig mit ihrem Auftreten als Ware. Das stimmt
zu dem Einfluß, welchen die Photographie als Reproduktionsverfahren auf
die Kunst selber nahm. Sie isolierte sie vom Auftraggeber, um sie dem
anonymen Markte und seiner Nachfrage zuzuführen. … „Je größer“, schreibt
die Verfasserin, „das Genie des Künstlers ist, desto besser reflektiert
sein Werk, und zwar gerade kraft der Originalität seiner Formgebung,
die Tendenzen der ihm gleichzeitigen Gesellschaft.“ (S. 4) Was an diesem
Satze bedenklich scheint, ist nicht der Versuch, die künstlerische
Tragweite einer Arbeit mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Struktur
ihrer Entstehungszeit zu umschreiben; bedenklich ist nur die Annahme,
diese Struktur erscheine ein für alle Mal unter dem gleichen Aspekt…“
(Walter Benjamin in seiner Rezension, Zeitschrift für Sozialforschung,
Paris 1938). – G. Freund war zu ihrer Doktorarbeit von Norbert Elias,
damals Assistent von Karl Mannheim in Frankfurt, angeregt worden.
Nachdem Mannheim im Sommer 1933 nach London emigrierte, entschied sich
auch Freund für die Emigration und beendete in Paris ihre Dissertation.
Diese wurde von ihrer engen Freundin der Pariser Buchhändlerin Adrienne
Monnier (1892-1955) herausgegeben. Durch Monnier und deren Freundin
Sylvia Beach, Inhaberin von Shakespeare and Company (seit 1921 in der
Rue de l’Odéon Nr. 12, gegenüber von Monniers Buchhandlung), lernte
Freund viele Größen aus der Pariser Kunst- und Literaturszene kennen
u.a. James Joyce, Ernest Hemingway, Ezra Pound, T. S. Eliot, Valéry
Larbaud, Thornton Wilder, André Gide, Léon-Paul Fargue, George Antheil,
André Malraux, Gertrude Stein, Stephen Benet, Aleister Crowley, John
Quinn, Berenice Abbott und Man Ray. – J. van Melle war technischer
Direktor der berühmten Pariser Druckerei Berger-Levrault. Seine Frau
Hélène Henry (1891-1965), eine der wichtigsten Textil-KünstlerInnen des
Art-Deco, arbeitete mit den Architekten und Designern Francis Jourdain,
Pierre Charreau, Mallet-Stevens, Ruhlmann u.a. zusammen. – Sehr schönes
sauberes und teils unbeschnittenes Exemplar.
Gute Ware
alles bestens!