Beschreibung
Pendo, Zürich, 1991, 196 Seiten. Gebunden Leinen.
«In Zürich möchte ich wohl leben» lautet ein Ausspruch von Johann Gottfried Seume, der 1802 auf dem Rückmarsch von Syrakus, also als «Erfahrener», in Zürich Halt machte. Er lobt besonders die Anlagen auf dem heute so berüchtigten Platzspitz mit dem noch immer vorhandenen, damals neuen Denkmal für den Idyllendichter Salomon Gessner. Von Salomon Gessner enthält die Kahlsche Sammlung einen bisher noch nicht gedruckten Brief an einen jungen italienischen Adligen, der in Zürich einen Bildungsaufenthalt plant und fragt, ob sich der auch lohne. Ein anderer Italiener, Aurelio de Giorgi Bertòla, besucht den Forstmeister Gessner im Sihlwald — zu Schiff, zu Pferd und zu Fuss, während ihn Christoph Meiners aus Göttingen spazierenderweise im Stadtpark trifft, wo heute der Hauptbahnhof steht, von wo aus Heinrich Wölfflin den modernen Besucher «Die alte Stadt» auf einem Rundgang neu sehen lehrt. Die Einfahrt mit der Eisenbahn hat Gonzague de Reynold ganz krank gemacht — er gehört mit Rilke zu den grossen Zürich-Hassern — und wirft als Aristokrat und Welscher der Wirtschaftsmetropole schon 1920 die Zerstörung der alten Eidgenossenschaft vor, während Hermann Hesse das Stadtleben geniesst, Richard Huelsenbeck mitten im Ersten Weltkrieg hier den Frieden findet, wie der Simplizissimus im Dreissigjährigen, während Francesco de Sanctis aus Exilantenschwermut erst auflebt, als seine Studenten 1858 freiwillig zur Grenzbesetzung rüsten ... Der möglichen Assoziationsketten ist kein Ende. Der Band enthält, chronologisch geordnet, 90 Texte, die sich alle mit der Stadt Zürich befassen. Viele schildern die Topographie, die Lage an See und Fluss (zeitweilig wird es fast zur Mode, die Klarheit des Wassers zu rühmen: der Lederstrumpf Cooper fühlt sich gar an das «Glimmerglas», den Otsego Lake seiner Heimat, erinnert), die repräsentativen Bauten, die Bibliotheken und Zeughäuser und ersten Fabriken; aber auch von der politischen Landschaft ist die Rede, von den frühen Töchterschulen und dem Waisenhaus, von der etwas polternden Geselligkeit, den sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten, der mehr oder minder freundlichen Aufnahme von Emigranten (den Glaubensflüchtlingen aus England im 16., den politischen Flüchtlingen im 19. Jahrhundert, unter ihnen Professoren der Hochschulen und. Richard Wagner). Zeitlich reicht die Sammlung von 1525 bis 1985. Paradox beginnt sie mit einer Briefstelle, worin Erasmus von Basel aus eine Einladung Zwinglis ablehnt und damit auch das ganze lokalpatriotische Unternehmen dieses Buches an seinen Ort verweist: nein, ich bin Weltbürger und auf Pilgerfahrt nach dem ewigen Jerusalem: dort allerdings hoffe ich auf ein Bürgerrecht. Im Unterschied zu bereits vorhandenen Anthologien über Zürich enthält diese auch längere Stellen: manche wohlbekannten Texte erhalten ein neues Gesicht, wenn man sie im Kontext lesen kann. Es wurde darauf geachtet, dass nach kritischen Angaben getreu zitiert wird. Fremdsprachiges erscheint im Original und in Übersetzung. Völlig Unbekanntes ist kaum zu finden. Aber der Reichtum, die Vielfalt der Gesichtspunkte, die angesprochen werden, dürfte neu sein. Kurze Angaben situieren jeden Text im Leben seines Verfassers und in die Umstände der Zeit.